Von der Trauer zur Entgegnung

13/07/2012
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Zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben, das Haiti an jenem schicksalhaften 12. Januar 2010 zerstörte, werden verschiedene Gruppen der haitianischen Gesellschaft, vor allem die Binnenflüchtlinge und Obdachlosen, nicht nur den tragischen Tod ihrer Liebsten beweinen, sondern auch ihr Missfallen über ihre derzeitigen Lebensbedingungen und das aktuelle System in Haiti kundtun. Von der Trauer zur Entgegnung…
 
Noch mehr Versprechen von Haitis Regierung
 
Zu Beginn des neuen Jahres, hat die haitianische Regierung eine Vielzahl von Terminen zum Gedenken an den zweiten Jahrestag des Erdbebens bekannt gegeben, das 250.000 Menschen das Leben gekostet hatte. Feierlichkeiten mit symbolischem Charakter, die Einweihung von Monumenten, die Präsentation neuer Projekte… werden als Hauptakte des offiziellen Gedenkens stattfinden.
 
Wiederholt wurden zudem eine Reihe von Versprechungen, die dringendsten sozioökonomischen, politischen und Umweltprobleme des Landes zu lösen, wie die soziale Ungleichheit, die Wohnungsnot, die Arbeitslosigkeit, den Konflikt zwischen den regierenden und gesetzgebenden Kräften, die fehlende Kompetenz im Umgang mit Risiken und Katastrophen… Es wurde versprochen, die Obdachlosen des größten Lagers der haitianischen Hauptstadt, nahe dem Präsidentenpalast, umzusiedeln.
 
Gemeinsam mit der EU präsentierten die haitianischen Behörden am 10. Januar ein neues Projekt der Umsiedelung von wohnungslosen Erdbebenopfern. Es sieht den Wiederaufbau von 11.000 Wohnungen vor, die durch das Beben beschädigt oder zerstört worden sind, heißt es in einer Bekanntmachung. Am vergangenen 9. Januar hat die haitianische Regierung vor dem Parlament ein Maßnahmenpaket vorgestellt, das in diesem Jahr umgesetzt werden soll. Die Wirtschaft des Landes soll angekurbelt werden, damit das Wachstum steigt, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus sinken, die nationale Produktion in Schwung kommt, der Zugang zu Technologien und Bildung besser werden, auf dem Land investiert wird, die Umwelt geschützt wird, die Institutionen gestärkt, der Tourismus gefördert und so weiter...
 
Das positive Fazit der UNO
 
Seit Ende des vergangenen Jahres zeichnen verschiedene UN-Organisationen, internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und andere Institutionen der so genannten "internationalen Gemeinschaft" ein grundsätzlich positives und optimistisches Fazit der durchgeführten Maßnahmen und der gegenwärtigen Situation des Landes, zwei Jahre nach der Tragödie. Für die UNO war 2011 in Haiti ein Jahr der Transition: Es wurde ein neuer Präsident gewählt, es gab einen Fortschritt, weg von der humanitären Hilfe hin zur Entwicklungshilfe.
 
Das UN-Entwicklungshilfeprogramm UNDP bestätigte, dass der UNO und ihren PartnerInnen in Haiti die Schaffung von 300.000 Arbeitsplätzen und die Beseitigung von 50 Prozent der Trümmer ˗ das entspricht einer Fläche von 5 Mio. Quadratmetern – in verschiedenen Regionen des Landes gelungen sind.
 
Die UNDP spricht von 2011 als einem „Jahr der Transition in Bezug auf die Hilfen, die sich von der humanitären Hilfe weg und, hin zur Erholung und zum Neuaufbau des Landes entwickelt haben“.
 
Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF spricht seinerseits bezüglich der Kinder von „kleinen Siegen“ im Jahre zwei nach dem Erdbeben. So unterstreicht UNICEF beispielsweise, dass „das Bildungssystem, obwohl es weiterhin überlastet und nicht ausreichend ist, es entgegen aller Prognosen fertig gebracht hat, eine Erhebung über die Zahl und den Zustand der Schulen durchzuführen, die Schulsysteme zu stärken und die Zahl der Kinder, die zur Schule gehen, bis auf 700.000 zu erhöhen ˗ dank eines starken politischen Willens, sich auf diesem Gebiet zu engagieren“.
 
Auch ein anderer „kleiner Sieg“ wird angeführt: Er besteht darin, „die Einrichtungen zum Schutz von Kindern, inklusive nachhaltiger Interventionen, um das Register von vermissten Kindern zu verbessern, erweitert zu haben und es auf diese Weise zu ermöglichen, dass die Kinder zu Familienangehörigen gelangen oder anderweitig eine angemessenere Betreuung erhalten“.
 
Ebenso wie UNDP und UNICEF machte man sich 2011 auch insofern als „Jahr der Transition“ in Bezug auf die Erholung nach dem Erdbeben zueigen, „indem gleichzeitig eine Kombination aus humanitärer Hilfe und der Entwicklung von Kompetenzen für die Verbesserung und Wiederherstellung der Institutionen umgesetzt wurde, um sich sowohl bestimmten punktuellen als auch den langwierigen Herausforderungen zu stellen, die einer effektiven Durchsetzung von Kinderrechten bisher entgegenstehen ”. Bezüglich der Obdachlosen erklärte der Koordinator der Humanitären Hilfe der UNO, Nigel Fisher, dass „die humanitäre Antwort auf die Katastrophe ein voller Erfolg war“, da beispielsweise rund 100.000 temporäre Wohnmöglichkeiten geschaffen worden seien und 21.000 Wohnungen wieder aufgebaut oder wieder hergestellt worden seien.
 
Die Zahl der Obdachlosen ging von 1,5 Mio. Menschen nach dem Beben auf etwas mehr als 500.000 Menschen zurück, verkünden alle Organisationen, die an das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten OCHA (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) in Haiti angeschlossen sind.
 
Jahr der „mageren Kühe“ für Nichtregierunsorganisationen
 
Für viele internationale Nichtregierungsorganisationen (NRO) war 2011 jedoch das Jahr der „mageren Kühe“, weil ihnen die Finanzen zusammengestrichen wurden. Viele NRO mussten ihre humanitären Maßnahmen verringern oder das Land ganz verlassen. So hat etwa OXFAM in seinem Bericht die Auswirkungen von Kürzungen internationaler Finanzhilfen auf die Durchführung von humanitären Hilfen, vor allem in den Camps und dort beispielsweise bei der Trinkwasserversorgung, der Abwasserbeseitigung in den Bädern und dem Schutz vor Geschlechtergewalt unterstrichen. Das Gesundheitswesen war laut der Organisationen Ärzte der Welt (MdM) von den Kürzungen der Finanzhilfen betroffen, während gleichzeitig die Cholera-Epidemie mehr als 6.900 Menschen dahinraffte (bis November 2011) und diese schon besiegte Krankheit auf Haiti wieder endemisch wurde. Verschiedene NRO verließen die Obdachlosenlager nach dem Ende von Programmen zur Cholera-Bekämpfung.
 
Die haitianische Gesellschaft ist nicht einverstanden
 
Weder die Versprechungen der haitianischen Regierung ˗ vor allem die von Präsident Michel Martelly und seinem Premierminister Gary Conille ˗ noch die optimistischen Prognosen der UNO und ihrer PartnerInnen, mittels eines regelrechten Bombardements von Berichten und Medienberichten in der nationalen und internationalen Presse, um deren Arbeit im Land zu rechtfertigen ˗ nichts hat die haitianische Bevölkerung davon überzeugen können, dass die Dinge sich in Haiti gut entwickeln würden. Die Wirklichkeit ist schlichtweg zu brutal. „Die Situation spricht für sich; die Gesamtsituation Haitis und der Mehrheit der Erdbebenopfer hat sich nicht grundlegend; die versprochenen Milliarden in US-Dollar gelangen nur tröpfchenweise ins Land“, unterstreichen die Jesuiten in einer Presseerklärung.
 
„Man kann nicht sagen, dass sich in Haiti groß etwas verändert hat in den letzten beiden Jahren; die UNO kann nicht gleichzeitig Richter und Beteiligter sein“, argumentiert der haitianische Soziologe Charles Ridoré, der in der Schweiz lebt.
 
„Die humanitäre Situation in Haiti ist nicht gut, es ist falsch, von Erfolg zu sprechen. Wir räumen immer noch die Trümmer weg, ungefähr die Hälfte der Obdachlosen lebt unter Zeltdächern und die Cholera-Epidemie fordert seit mehr als einem Jahr ihre Opfer“, unterstreicht Gérard Bedock, Chef der Schweizer Sektion von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Haiti. Heftiger kritisiert wird hingegen der Prozess Wiederaufbau Haitis. Laut verschiedener haitianischer Organisationen „ist der Wiederaufbau Haitis gescheitert, weil er auf Exklusion beruhte“, heißt es da beispielsweise.
 
„Vierundzwanzig Monate nach dem Beben ist die Situation der Bewohner beunruhigend, die Würde der Menschen wird nicht respektiert“, kritisierte Antonal Mortimé, Leiter einer
Organisationsplattform verschiedener Menschenrechtsorganisationen.
 
Die Analysen von ExpertInnen der aus dem zivilgesellschaftlichen Spektrum des Vereinigten Königreichs kommenden Haiti Support Group untermauern die von sozialen Organisationen vorgebrachte Kritik, was die Schaffung der Interimskommission für den Wiederaufbau Haitis IHRC (Interim Haiti Recovery Commission) angeht. Die vom ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton geleitetete IHRC war demnach „schlecht konzipiert, dysfunktional, kaum effektiv“ und hat „eine Struktur die nicht dafür geschaffen ist, Haiti oder den Haitianern zu helfen, sondern den Spendern, weil es ihnen erlaubt, die Projektverträge den transnationalen Unternehmen und NRO in die Hände zu spielen“, erklärt die Haiti Support Group.
 
„Diese Projekte“, heißt es dort weiter, „entstammen jenen Institutionen, die Haiti seit jeher bestimmt haben: der Interamerikanischen Entwicklungsbank IDB (International Development Bank), der Weltbank, der UNO, der US-amerikanischen Entwicklungshilfeorganisation USAID und einzelnen Geberländern, die genug Geld versprachen um sich damit einen Posten im Aufsichtsgremium der IHRC zu sichern“.
 
„Die betroffenen Personen sind (von der IHRC) nie konsultiert worden, um deren Bedürfnisse zu ermitteln“, konstatieren die ExpertInnen. „Dass die einzige mit dem Wiederaufbau betraute Institution wissentlich schlecht konzipiert und mit einer schlecht angepassten Struktur ausgestattet war, ist ein schockierendes Beispiel des ,Katastrophenkapitalismus’, ein bestens bekanntes Phänomen“, so die Schlussfolgerung der Haiti Support Group.
 
Demonstrationen und Proteste am 2. Jahrestag des Erdbebens
 
Angesichts dieses Szenarios haben verschiedene Organisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen Demonstrationen und Proteste durchgeführt, um ihre Kritik an der gegenwärtigen Situation des Landes zu äußern. Am 11. Januar marschierten Tausende HaitianerInnen, angeführt von einer Plattform aus zehn lokalen Organisationen durch die Hauptstadt Port-au-Prince, um ihrer Unzufriedenheit mit der Lebensrealität im Land Ausdruck zu verleihen. Am Sitz des Parlamentes übergaben die Organisationen den Abgeordneten ein Dokument, worin die Hauptforderungen nach einer Agrarreform, Dezentralisierung, sozialem Wohnungsbau und Transparenz in der öffentlichen Verwaltung, neben weiteren Forderungen, erneuert werden.
 
Verschiedene Netzwerke sozialer haitianischer Organisationen haben auch für den 12. Januar Protestmärsche angekündigt, um die schwierigen Lebensbedingungen im Land, den langsamen und ausschließenden Prozess des Wiederaufbaus, die Abhängigkeit, die fehlende Transparenz bei der Verwaltung von Geldern aber vor allem: die gewaltsame Räumung von Obdachlosen aus den haitianischen Notunterkünften anzuprangern.
 
Das Gedenken am Jahrestag des Erdbebens hat in diesem Land eine neue Richtung eingeschlagen: Aus der schmerzvollen Trauer ist Protest geworden. Das haitianische Volk geht auf die Straße, um die gegenwärtige Lage der Dinge in seinem Land anzuprangern. Es drückt seinen Widerstand gegen die gegenwärtige Ordnung aus, die Haiti übergestülpt wird, ebenso wie seine Bereitschaft, einen realistischen Blick in die Zukunft zu wagen, jenseits des Schmerzes und durch alle Lügen und Betrügereien hindurch.
 
* Der Autor Woody Edson Louidor arbeitet für den Jesuitenflüchtlingsdienst für Lateinamerika und die Karibik SJR-LAC (Servicio Jesuita a Refugiados-Latinoamérica y Caribe)
 
https://www.alainet.org/es/node/159594?language=es
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