(Quito, 12. Oktober 2014, alai).- Der bolivianische Präsident Evo Morales hat die Wahlen mit 60 Prozent der Stimmen klar gewonnen und steht nun vor seiner dritten Amtszeit. Ob seine Partei MAS die angestrebte Zweidrittelmehrheit erreicht hat, ist jedoch noch offen. Wie das Oberste Wahlgericht mitteilte, muss die Abstimmung in zwei Gemeinden in der Tieflandprovinz Santa Cruz wiederholt werden. Auch technische Probleme haben die Auszählung verzögert.
Der überwältigende Wahlsieg von Evo Morales hat eine einfache Erklärung: Er gewann, weil seine Regierung in der bewegten Geschichte Boliviens bisher zweifellos die beste gewesen ist. Die „beste“ heißt, das bedeutende und so oft verletzte Versprechen jeder Demokratie einzulösen: das materielle und spirituelle Wohlergehen der großen nationalen Mehrheiten zu garantieren, dieser heterogenen proletarischen Masse, die über Jahrhunderte unterdrückt, ausgebeutet und erniedrigt wurde. Es ist kein Bisschen übertrieben, wenn Evo als jemand bezeichnet wird, der einen Bruch in der bolivianischen Geschichte erzeugt hat: Es gibt ein Bolivien vor seiner Regierung und ein anderes, besseres, seit er in den Regierungspalast, den Palacio Quemado einzog. Dieses neue Bolivien, kristallisiert im Plurinationalen Staat, hat das andere Bolivien – das koloniale, rassistische, elitäre – endgültig begraben. Nichts und niemand werden seine Auferstehung bewirken können.
Es ist ein häufiger Fehler, diese wahrhaft historische Meisterleistung dem ökonomischen Glück zuzuschreiben, das sich mit dem „Rückenwind“ der Weltökonomie über Bolivien ergossen hat. Denn dies ignoriert, dass die Weltwirtschaft kurz nach Evos Regierungsübernahme in eine Rezession eintrat, die sie immer noch nicht überwunden hat. Sicherlich hat seine Regierung die richtige Wirtschaftspolitik verfolgt. Aber unserer Meinung nach muss seine außerordentliche Führungskraft mit etwas anderem erklärt werden. Mit Evo wurde eine tatsächliche politische und soziale Revolution ausgelöst, deren hervorstechendstes Merkmal die Einsetzung einer Regierung sozialer Bewegungen ist. Das hat es in der bolivianischen Geschichte zuvor nicht gegeben. Die Bewegung für den Sozialismus MAS (Movimiento al Socialismo) ist keine Partei im strikten Sinn, sondern eine umfassende Koalition von Volksorganisationen verschiedenen Typs. Im Laufe der Jahre hat sie sich erweitert und sogar Teile der Mittelschichten in ihre Hegemonie eingegliedert, die in der Vergangenheit in inbrünstiger Opposition zum Anführer der Cocaleros standen. Darum verwundert es nicht, dass in dem revolutionären bolivianischen Prozess – zur Erinnerung: die Revolution ist immer eine Entwicklung, niemals ein einzelner Akt – verschiedene Widersprüche aufgetreten sind. Álvaro García Linera, Evos Vize, interpretiert diese als kreative Spannungen, die jeder Revolution zu eigen sind.
Widersprüche als "kreative Spannungen"
Keine Regierung ist frei von Widersprüchen, wie alles Lebendige. Was aber Evos Amtsführung auszeichnet, ist deren korrekte Lösung. Er stärkte die Position der einfachen Bevölkerung und gab ihr den Vorrang auf Staatsebene. Wenn der Präsident sich irrte – beispielsweise beim „gasolinazo“, der Benzinpreiserhöhung im Dezember 2010 – gestand er seinen Fehler ein. Nachdem er die Stimmen der Volksorganisationen hörte, annullierte er die wenige Tage zuvor dekretierte Treibstofferhöhung. Diese nicht gerade häufige Sensibilität, auf die Stimme der Bevölkerung zu hören und ihr zu folgen, erklärt einen Erfolg Evos, den Lula und Dilma nicht erreichten: eine Wahlmehrheit in politische Hegemonie umzuwandeln. Das heißt: einen neuen historischen Block zu schmieden und immer weitreichendere Bündnisse zu bilden, ohne die Führung durch die in den sozialen Bewegungen organisierte Bevölkerung aufzugeben.
Natürlich hätte all dies nicht allein von dem politischen Gespür Evos oder der Faszination hinsichtlich eines Diskurses, der das Heldenepos der originären Völker rühmt, getragen werden können. Ohne eine angemessene Verwurzelung im materiellen Leben hätte beides sich spurlos verflüchtigt. Es war die Kombination mit signifikanten wirtschaftlichen Erfolgen. Sie steuerten die notwendigen Bedingungen bei, um eine politische Hegemonie zu bilden, die den überwältigenden Wahlsieg möglich machten. Das Bruttoinlandsprodukt stieg von 9,525 Milliarden Dollar in 2005 auf 30,381 Milliarden in 2013. Das Pro-Kopf-Einkommen sprang im selben Zeitraum von 1.010 Dollar auf 2.757 Dollar jährlich. Der Schlüssel zu diesem in der bolivianischen Geschichte beispiellosen Wachstum – und zu dieser Umverteilung – findet sich in der Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe. Verblieben in der Vergangenheit 82 Prozent der Erlöse des Gas- und Öleinkommens in den Händen der multinationalen Konzerne und nur 18 Prozent in denen des Staates, so kehrte sich dieses Verhältnis unter Evo um. Es verwundert daher nicht, dass ein Land mit chronischen Haushaltsdefiziten Ende 2013 über Devisenreserven von 14,430 Milliarden Dollar verfügte, während es 2005 nur 1,714 Milliarden Dollar waren. Um diese Zahl einzuschätzen: das sind 47 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und damit weit mehr als in jedem anderen Land Lateinamerikas. Die extreme Armut ging von 39 Prozent in 2005 auf 18 Prozent in 2013 zurück. Das Ziel ist es, sie bis 2025 auf Null zu reduzieren.
Diktatur oder politische Stabilität?
Mit dem Wahlergebnis vom 12. Oktober wird Evo bis 2020 im Palacio Quemado bleiben. Dann wird sein Projekt einer Neugründung Boliviens unumkehrbar sein. Noch ist unklar, ob er weiterhin eine Zweidrittel-Mehrheit im Kongress besitzen wird. Diese würde eine Verfassungsreform ermöglichen, die den Weg für eine unbegrenzte Wiederwahl öffnen könnte. Angesichts dieser Option wird es nicht an Stimmen fehlen, die den bolivianischen Präsidenten als Diktator oder Machtverewiger anklagen. Das sind heuchlerische und demokratisch unaufrichtige Stimmen, die sich nie an den 16 Jahren Regentschaft von Helmut Kohl in Deutschland oder den 14 Jahren des spanischen Lobby-Politikers Felipe González an der Macht störten. Was in Europa eine Tugend und ein unanfechtbarer Beweis für Planbarkeit und politische Stabilität ist, wird im Fall Boliviens zum nicht hinnehmbaren Laster erklärt, das die angeblich despotische Essenz des MAS-Projektes entlarvt. Nichts Neues: Es gibt eine Moral für die Europäer und eine andere für die Indios. So einfach ist das.